Uchi Deshi bei Kimura Sensei

Kaspar Reinhart war der erste Schüler aus der Schweiz, der von Kimura Sensei zu einem 5-monatigen Trainingsaufenthalt eingeladen wurde. Alle waren auf seine Rückkehr gespannt, war seineTechnik wirklich so gut und seine Schultern etwas breiter geworden, wie uns Kimura Sensei am letzten Kurs in der Schweiz erzählte? Beim ersten Training erkannte ich Kaspars Technik nicht wieder. Ich war so fasziniert, dass ich nur noch ein Ziel hatte: Uchi Deshi bei Kimura Sensei.

Einige Monate später, am 9. Oktober 1989, sass ich im Flugzeug nach New York. Am späten Nachmittag im Dojo angekommen, begrüsste mich Jorma und zeigte mir meine zwei Schubladen, dort konnte ich einen Teil meiner Kleider lagern, der Rest blieb in der Tasche. Sonst? – Nichts! Schlafen im Schlafsack auf dem Dojoboden. Jorma war aus Finnland, er war bereits seit 10 Monaten hier. Jetzt betrat Kimura Sensei das Dojo, begrüsste mich kurz und schon begannen die ersten zwei Trainings. Nach dem Training wurden Jorma und ich von Kimura Sensei ins japanische Restaurant Mjoshi eingeladen. Beim Essen erklärte mir Sensei dann die Regeln. «Keine Frauen, kein Alkohol und kein Ausgang. Nur Training. Bei Nichteinhalten dieser Regeln fliegst du sofort nach Hause.» – «Ouss Sensei.» Die Trainingszeiten konnte ich mir einfach merken. 10 – 14 Uhr und 17 – 21 Uhr. Sieben Tage in der Woche.

Nach einer ziemlich unruhigen Nacht weckte mich Jorma um 7 Uhr. Dojo gründlich putzen, danach Frühstück. «Was ist denn das?» «Brown Rice?!» Voll-Reis am Morgen? Ich konnte davon keinen Bissen essen. Schon stand Sensei vor uns. «Roland, wieso isst Du keinen Brown Rice?» Verlegen zuckte ich mit den Schultern. «Wie willst Du acht Stunden trainieren ohne zu essen?» Jetzt begann mein erster Kampf, gegen den Brown Rice. Um 10 Uhr standen wir auf der Matte. Es war kein geführtes Training. Wir mussten für uns trainieren. Sensei trainierte am Rande der Matte. Der Finne links von mir faustete wie eine Maschine, stundenlang ohne Pause. Um 15 Uhr klingelte jeweils das Telefon. Senseis’s Stimme «food is ready» war zu hören. Zu Sensei’s Haus fahren und das Essen abholen. Frau Kimura kochte für uns jedesmal ein Festessen. Japanischer Power Food. «Bei dieser Ernährung werdet ihr nie krank», erklärte uns Sensei. Um 17 Uhr unterrichteten wir die Kinder, danach trainieren bis 21 Uhr. Das Abendtraining war geführt, meistens von Kimura Sensei. Um 22.30 Uhr dann das lang ersehnte Klingeln des Telefons «food is ready». Nach dem ausgiebigen Essen, das uns die Energie zurückbrachte, noch ein bisschen Fernsehen und ab in den Schlafsack.

Am nächsten Morgen wusste ich nicht, wie ich aufstehen sollte. Jeder Muskel schmerzte. Jetzt fielen mir Kaspars Worte wieder ein: «Muskelkater wirst du fünf Monate lang haben.» Sollte das nun mein Zustand für die nächsten 5 Monate sein? Nach einer Woche hatte ich mich etwas eingelebt und an die Schmerzen gewöhnt.

Nach einigen Wochen kannte ich die Spielregeln im Dojo, wusste, wie ich mich Sensei Kimura gegenüber zu verhalten hatte. Wenn Sensei unterrichtete, korrigierte er den Finnen und mich nie. Er sagte nur: «Ihr habt genug Zeit zum Trainieren, ihr müsst alles selber rausfinden.» Es war schon ungewohnt, tagelang zu trainieren und keine Korrektur zu erhalten. Etwa einmal in der Woche gab mir Sensei einen Tipp, mit der Zeit merkte ich auch, ob er mit meinen Fortschritten zufrieden war oder nicht.

Im Dezember flog Sensei mit seiner Frau für 10 Tage nach Japan. Inzwischen war ein zweiter Finne angekommen, sein Name war Sakko. Während Sensei in Japan war, wohnte ich mit den beiden Finnen in Sensei’s Haus. Sensei sagte zu mir: «Du bist der Älteste, du schläfst in meinem Bett und bist für das Haus und den Schäferhund Trouble verantwortlich.» Das Haus war in einem ziemlich schlechten Zustand. Nun hatte ich die Möglichkeit, Sensei und seiner Frau etwas zurückzugeben. Von morgens bis abends reparierte ich das Nötigste am Haus. Sensei liebte seinen Schäferhund Trouble über alles. Ich musste ihm täglich sein Menue kochen. Brown Rice mit bestem Fleisch und 3 Zehen Knoblauch, danach auskühlen lassen, bis die richtige Temperatur erreicht war. Trouble war bereits 15-jährig, konnte kaum noch laufen, hörte fast nichts mehr und war total eigensinnig. Der tägliche Spaziergang mit ihm war ein Horror. Zuerst musste ich ihn mit einem leckeren Happen die Treppe runterlocken, und beim Spazieren sagte er, wo es langgeht. Manchmal wollte er dreimal hintereinander die gleiche Strasse überqueren. Das taten wir dann auch. Meine grösste Angst war, dass dem Hund während Sensei’s Abwesenheit etwas passieren könnte.

Als Sensei mit seiner Frau aus Japan zurück kam, war er sehr glücklich über die kleinen Reparaturen, die ich am Haus ausgeführte hatte. Von nun an gab’s sogar Dessert und Sensei gab mir jetzt mehr Tipps zur Technik. Nun begann ich, seine Technik etwas besser zu verstehen und nach drei Monaten ging alles etwas leichter. Der Körper hatte sich an die tausenden Wiederholungen gewohnt und der Maeken Zuki fühlte sich natürlicher an. Maeken Zuki, das war die Technik, die wir täglich trainierten. «Maeken ist der Schlüssel für alles», sagte Sensei. Wenn der Maeken gut ist, kommt der Gyaku auch gut und die Kata wird besser. Täglich die gleichen Übungen und doch täglich etwas Neues, ein neues Gefühl, manchmal besser, manchmal schlechter. Sensei trainierte täglich Maeken Zuki am Rande der Matte. Ich sah ihn niemals eine andere Technik trainieren. Und doch: Im Training verblüffte er uns mit verschiedenen Techniken, obwohl er sie gar nicht trainierte. Da erinnerte ich mich wieder an seine Worte «If you can do Maeken, you can do everything.»

Nun wurde mir klar, eine Technik lernt man nicht durch Erklärungen, sondern nur durch harte Arbeit, tausende Wiederholungen. Sensei Kimura erklärte niemals, wie sich die Technik anfühlen musste. Er kreierte eine Übung, durch deren unzählige Wiederholungen begann ich, Verbindungen und Aufwindungen im Körper zu fühlen. Sensei sagte: «Wenn du richtig trainierst, entdeckst du jeden Tag etwas Neues, ein neues Gefühl oder eine Schwäche. Wenn du einen Gegner schlagen willst, ist es sehr wichtig, dass du deine Stärken kennst, aber genauso wichtig, dass du deine Schwächen kennst.»

Täglich musste ich gegen die besten Schüler kämpfen. Sensei gab mir sehr viel Druck, er sagte, das ich die andern immer schlagen müsse, da ich viel mehr Zeit zum Trainieren hätte. Jeder wollte natürlich gegen den Uchi Deshi gewinnen. Sensei sagte: «Du musst lernen zu überleben.» Er erklärte mir: «Eine Pflanze, die im Treibhaus wächst, wird beim ersten Unwetter sterben, eine Pflanze, die im Unwetter aufwächst, wird überleben.» Kimura Sensei legte grossen Wert darauf, uns seine Philosophien zu lehren. Stundenlang, manchmal mitten in der Nacht lehrte er uns, wie wir uns im täglichen Leben zu verhalten hätten. Er gab mir immer wieder Anstösse, das Karate im Alltag umzusetzen. Viele seiner Aussagen wurden mir erst im Laufe der Jahre klarer. Wenn ich mal 1 oder 2 Stunden Pause hatte, wollte ich schlafen. Sensei belehrte mich: «Wenn du den Körper ausruhst, musst du deinen Geist fordern. Du musst, während sich der Körper ausruht, etwas lesen oder Englisch lernen.» Am nächsten Tag brachte er die Englischbücher seiner Frau ins Dojo und wir mussten abends um 10 Uhr mit ihm Englisch büffeln. Sensei funktionierte nun einen seiner Schüler zum Englischlehrer um. Jeden Sonntag gab er uns Englischunterricht und Hausaufgaben für die Zeit zwischen den Trainings. Allmählich wurde mir bewusst, wie viel Energie überhaupt in mir steckte und was alles möglich war.

Die härteste Zeit für mich war zwischen Weihnachten und Neujahr. Jetzt war für die Schüler kein Training. Während alle anderen Weihnachten feierten, absolvierten wir unser tägliches Trainingsprogramm. Das Neujahr kam langsam näher. Wir freuten uns bereits darauf, dass uns vielleicht ein Schüler zu einer Neujahrsparty einladen würde. Sensei interessierte sich nicht für Neujahr und so trainierten wir, wie jeden Tag bis 21 Uhr. Danach Nachtessen und anstossen mit einer Cola. Diese Silvesterparty werde ich nie vergessen.

Jetzt war es in New York bitterkalt und im Dojo ebenso. Das alte Dojo war ziemlich baufällig und schlecht isoliert. Es hatte zwar eine Heizung, die wir aber erst 15 Minuten vor dem Training einschalten durften, wenn die Schüler kamen. Während dieser Zeit starteten wir unser Training am Morgen mit 3 – 4 Pullovern und Handschuhen. Jetzt wusste ich was es heisst, sich aufzuwärmen. Wir hatten keine andere Wahl, als uns den ganzen Tag in Bewegung zu halten. Ich freute mich immer auf Sonntag, dann gingen wir zum Waschen in die Wäscherei, dort konnten wir 2 Stunden Wärme auftanken.

Kumura Sensei hatte auch eine sehr väterliche Seite. Plötzlich hatte ich Fieber und konnte meinen Mund nicht mehr öffnen. Ich hatte eine Infektion am Weisheitszahn. Es war Samstagmorgen und der Zahnarzt geschlossen. Sensei brachte mir «Pain Killer», da die Schmerzen unerträglich wurden. Sakko, der Finne, musste für mich spezielle japanische Äpfel raffeln, da ich sonst nichts essen konnte. Da mein Mund so aufgeschwollen war, konnte der Zahn erst am Mittwoch gezogen werden. Der Zahnarzt verpasste mir sieben Spritzen und noch immer hatte ich furchtbare Schmerzen. Die Tränen wurden immer grösser und mehr. Sensei stand die ganze Zeit neben mir. Ich schämte mich, vor Sensei zu weinen, aber ich konnte die Tränen nicht stoppen. Plötzlich packte Sensei einen anderen Zahnarzt, der gerade vorbeiging, am Arm und zerrte ihn ins Zimmer «Schau mal, wie der Junge leidet, das ist doch nicht normal? Tu sofort etwas.» Spätestens jetzt war mir klar, dass Sensei nur das Beste für uns Uchi Deshi wollte und er uns immer wieder an unsere körperlichen und mentalen Grenzen brachte, um uns härter und stärker zu machen.

Sensei’s Frau war damit beschäftigt, für alle zu kochen und zu posten. Sie sprach nicht sehr gut englisch. Als Sensei einmal im Ausland war, es war Sonntag, rief sie uns an und sagte etwas von Autopanne irgendwo in New York. Es war schwierig, sie zu verstehen, denn sie war sehr aufgeregt. Sakko und ich fuhren los, wir vermuteten sie im japanischen Einkaufscenter. Auf dem Parkplatz angekommen, folgten wir einer riesigen Dampfwolke, die dem VW Golf von Frau Kimura entwich. Wir versuchten sie zu beruhigen und brachten sie nach Hause. Ein Gummischlauch vom Kühlsystem war defekt. Am nächsten Tag ersetzte ich den Schlauch. Sensei kam am selben Tag zurück. Ich erzählte ihm die Geschichte, doch er sagte, seine Frau sei sehr verängstigt und wolle das Auto nicht mehr. Ich musste den defekten Schlauch aus dem Müll holen und ihm genau erklären, was die Ursache der Dampfwolke war. Es war nicht so einfach, da er nicht viel Motoren verstand. Er hat dann den Schlauch nach Hause gebracht und seine Frau wieder beruhigen können. Am nächsten Tag machte Frau Kimura eine Riesentorte für uns. Ich war stolz, endlich etwas für sie getan zu haben, da sie jeden Tag für uns kochte. Das Essen war jedesmal ein Kunstwerk, stundenlange Arbeit steckte dahinter. Ich hatte jedesmal ein schlechtes Gewissen, ich fragte mich oft: «Habe ich heute wirklich hart genug trainiert, um dieses Essen zu verdienen?» Es war immer eine gute Motivation, um am nächsten Tag das Beste zu geben.

Wenn ich heute auf diese Uchi Deshi Zeit bei Kimura Sensei zurückschaue, so glaube ich, dass er mir dort das Fundament für mein zukünftiges Leben als Karateka gegeben hat. Auch wenn er leider nicht mehr unter uns ist, orientiere ich mich täglich an seinen technischen und philosophischen Anweisungen, die er mir gegeben hat.

Ich möchte mich bei Kimura Sensei und seiner Frau nochmals herzliche für dieses einmalige Erlebnis bedanken.

Vielen Dank auch an Kaspar und Chris, die während dieser Zeit ihre spärliche Freizeit opferten, um die Dojos Uznach und Frauenfeld zu führen.

Roland Benz